Es jährt sich wieder, nur ist das Jubiläum kein schönes Ereignis. Fast zwei Jahre ist es nun her, dass mein Großvater verstorben ist. Ich habe damals einen Abschiedsbrief geschrieben. Noch bevor er tot war, hatte die Demenz ihn zu einem anderen gemacht. Mit diesem persönlichen Text habe ich versucht, die Erfahrungen zu verarbeiten.
In Deutschland leben gegenwärtig circa 1,6 Millionen Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Mein Großvater war einer davon.
Liebe Demenz,
Du hast gewonnen und aus meinem Opa einen lebenden Geist gemacht. Wobei „lebend“ wohl besser durch „physisch anwesend“ zu ersetzen ist. Das hier ist ein sehr persönlicher Abschiedsbrief für einen Menschen, der bereits gegangen ist, obwohl ich ihm noch ins Gesicht sehen kann.
Wir waren nie Freunde. Dafür hast Du zu wenig gesagt und ich zu wenig von Dir gewusst. Jetzt ist die Zeit abgelaufen und ich kann keine Fragen mehr stellen. Was jetzt in deinem Kopf passiert, kann ich nicht sagen, Du schaust ja nicht einmal mehr in unsere Richtung. Was bleibt, sind Geschichten, die mit „Früher“ anfangen.
Früher warst Du manchmal wütend, wenn wir nicht aufessen wollten. Du bist dann aufgestanden vom Esstisch und hast Dinge gemurmelt, die ich nicht verstanden habe. Für jemanden der während des Krieges nach Essen in Mülltonnen suchen musste, war es wohl schwer mit unserer Ignoranz konfrontiert zu sein.
In eurem Wohnzimmer steht ein altes Foto auf dem Regal des Buffets. Darauf lächelt ein Mädchen schüchtern. Seine Haare sind fast schwarz, ihr Gesicht ist weich und rund. Sie hat die Art von Nase für die Menschen heute viel Geld bezahlen. Neben ihr steht ein großer Junge, muskulös, mit wildem Haar. Stattlich hätte man früher wohl gesagt. Er lächelt stolz, ein wenig so als könnte er nicht fassen, was gerade geschieht. Es ist euer Hochzeitsfoto. Ihr Bruder hatte Dich mit nach Hause gebracht, ihre Eltern wurden auch deine. Am Ende warst Du Teil der Familie, die Du selbst nie gehabt hast. Wie es zu jener Zeit gewesen sein muss im Kinderheim aufzuwachsen, es liegt so weit außerhalb meiner Welt, dass mein Kopf keine Bilder finden kann, ganz egal wie sehr ich es versuche.
Vor ein paar Monaten hast Du im Garten etwas gebaut, das einem Grab ähnelt. Du hast Steine aufgetürmt und die Erde glatt gestrichen. Niemand von uns anderen hat es seither angerührt und wenn man aus dem Fenster blickt an diesen Herbsttagen, an denen der Nebel in den Bäumen hängt, dann könnte man meinen, es sei schon immer dort gewesen. „Werde ich meine Mama wiedersehen?“, hast Du zuletzt deine älteste Tochter gefragt. „Sie wartet auf Dich,“ hat sie geantwortet und Du hast gelächelt. Für einen Moment warst Du der kleine Junge, der die große Liebe jedes jungen Daseins viel zu früh verloren hat und jetzt mit dem Tod eine Chance auf Versöhnung mit dem Leben bekommt.
Aus dem Küchenfenster habe ich Dich gestern an jenem Beet vorbeigehen sehen, wo früher einmal der Swimmingpool war, den Du für uns Enkelkinder gebaut hast. Wir sollten hier ein Paradies haben, das für Dich immer außer Reichweite lag. Ich weiß nicht, ob Du jemals glücklich warst und das wird mir erst langsam bewusst. Ich weiß bloß, dass es für Dich diese stillen Momente der Freude gab, in denen Du ruhig gelächelt hast, manchmal schelmisch. Dir war ein Coup gelungen und Du hast Dir für Augenblicke vielleicht etwas von dem zurückgeholt, was Dir immer gefehlt hat. Eine Kindheit.
Du musst deinen drei Kindern ein strenger und manchmal cholerischer Vater gewesen sein. Das weiß ich aus Erzählungen und das ist ein Vorwurf, den man Dir machen kann. Für Dich war harte Arbeit wichtig, dass man anpackt und sich anstrengt. „Von nichts kommt auch nichts,“ hast Du immer gesagt. Deine großen rauen Hände mit den Schwielen haben davon authentischer erzählt, als jedes Wort es je gekonnt hätte. Ob Du dann jemals verstanden hast, was wir Jungen tun an unseren Schreibtischen, mit den Köpfen in den Büchern, der ganzen Freizeit und der blassen Haut, ich bin nicht sicher. Aber mit uns Enkeln warst Du schon milde geworden.
In den Ferien hast Du mich an deiner Seite in den Gärten arbeiten lassen und mir einen Stundenlohn bezahlt, von dem unsere Praktikumsgeneration wohl nur träumen konnte. Das Geld habe ich dann in die Geschäfte getragen und mir noch mehr von dem Quatsch gekauft, den man als Jugendlicher für so wichtig erachtet. Ähnlich wichtig wie die Teilnahme an den sommerlichen Dorffesten, auf denen Küsse und Weingläser getauscht und die Geschichten für das nächste Schuljahr geschrieben wurden.
Du und Oma habt es euch nicht leicht gemacht. Deine Eifersucht und ihre Heimatliebe haben dazu geführt, dass sie ihren Vereinen den Rücken kehrte und Du weniger von der Welt gesehen hast, als Du stets wolltest. Ich bin nicht sicher, was man daraus lernen soll, außer dass man aufmerksam sein muss und einander gut zuhören. Die Reisen auf die wir dennoch alle gemeinsam gegangen sind, gehören wohl zu den kostbarsten Erinnerungen, die wir teilen. Wie Du in der Karibik auf deinem Liegestuhl mit deinem schwarzen Haar und dem dunklen Schnurrbart so schnell so braun geworden bist, dass man anzweifeln konnte, dass deine Wurzeln eigentlich in der Schweiz liegen oder wie Du in Griechenland den frischen Fisch so gerne mochtest. Diese Neugierde, die immer deinen Blick bestimmt hat, ist wohl auch, was ich am meisten vermisse.
Heute gehst Du wie ein Geist die Gänge entlang und an mir vorbei. Wie ein Geist streifst Du durch die Räume, die Dir längst fremd geworden sind. Wie ein Geist schaust Du hindurch, durch mich, durch Samara, durch Vivien, durch Daniela, durch Marlon, durch Annette, durch Maria und wie wir alle heißen. Es spielt jetzt keine Rolle mehr für Dich.
Heute früh blieb dein Blick für einen kurzen Moment dann doch an mir hängen und Du hast gelächelt. Das war der Moment, den ich gebraucht habe, so dringend gebraucht, auch wenn er bloß die Illusion einer Zeit war, die ich längst verloren habe.
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